31. Januar 2008, 13:15 Uhr

VOM DSDS-KANDIDATEN ZUM MOBBING-OPFER

"Ich bin völlig fertig"

Von Sebastian Wieschowski

Wenn die "DSDS"-Jury ihr Urteil gefällt hat, geht der Kummer für junge Casting-Teilnehmer erst los: Per Internet und Telefonbuch spüren Zuschauer gescheiterte Nachwuchssänger wie Raymund R. und Marian K. auf - und terrorisieren sie. Jugendschützer fordern RTL zum Handeln auf.

Köln - Immer wieder klingelt das Telefon in dem kleinen Haus der Familie R. Die Anrufer brauchen meist nur einzelne Wörter, um dem 17-jährigen Raymund die Tränen in die Augen zu treiben: "Schwuchtel, Arschloch, Hackfresse" - Beleidigungen dieser Art gehören noch zu den sanfteren Ausdrücken, die sich der Schüler seit einer Woche anhören muss.

"Ich bin völlig fertig", sagt Raymund in seiner kurzatmigen, aufgeregt wirkenden Sprechweise. "Seit meinem Auftritt klingelt das Telefon pausenlos. Leute beschimpfen und bedrohen mich." In der Auftaktsendung der RTL-Castingshow "Deutschland sucht den Superstar" wollte Raymund seine Sangeskünste unter Beweis stellen.

Das misslang gründlich: "Ich glaub', wenn du in die Berge gehst und rufst, kommt da kein Echo zurück", nölte Dieter Bohlen - und der 17-jährige Schüler hyperventilierte. Nach Luft schnappend und heulend wand sich Raymund vor den Kameras auf dem Fußboden - und wurde das erste Opfer der RTL-Casting-Maschine.

Noch am Abend der Ausstrahlung riefen anonyme Zuschauer bei den R.s an, das Telefon schrillte die ganze Nacht, mehrere hundert Mal. Vorläufiger Höhepunkt der Aggressionen: Unbekannte Täter traten die gläserne Haustür des R.'schen Hauses ein.

"Hör auf zu singen, geh anschaffen"

Wer DSDS-Kandidaten wie Raymund R. mal so richtig die Meinung sagen will, hat leichtes Spiel: RTL blendete Raymunds Vor- und Nachnamen sowie seinen Wohnort ein. Über soziale Netzwerke wie StudiVZ im Internet oder das Telefonbuch ließ sich der Kontakt zum erfolglosen Bewerber herstellen - auch zu Marian K., dessen Auftritt am Samstagabend gezeigt wurde. "Hör auf zu singen, geh anschaffen", schreibt ein Düsseldorfer in das Profil des 21-jährigen Friseur-Azubis. Nun erfährt Marian am eigenen Leib, wie Entertainment durch Bloßstellung funktioniert. "Ich frage mich schon, warum ich zuerst die Einladung zum Recall bekommen habe, RTL hinterher noch einen kleinen Beitrag über mich gedreht hat und ich mich am Ende von Dieter Bohlen als Oberschwuchtel bezeichnen lassen muss", sagt Marian.

Tatsächlich wurden die Superstar-Bewerber, die im Fernsehen von Dieter Bohlen, Anja Lukaseder und Andreas Läsker bewertet werden, bereits von einer anderen Jury vorsortiert: "Um die Flut von bis zu 6000 Kandidaten pro Castingort zu bewältigen und die Jury nicht unnötig zu belasten, bewerten Musikredakteure in der ersten Casting-Runde die Leistung der Kandidaten", erklärt Anne Haas, Redakteurin bei der DSDS-Produktionsfirma Grundy Light Entertainment.

Diese Vor-Castings seien ausschließlich aus praktischen Gründen eingerichtet worden: "Es ist zeitlich unmöglich, binnen weniger Wochen alle Kandidaten vor der DSDS-Jury singen zu lassen", sagt RTL-Sprecherin Anke Eickmeyer. Die Auswahl derer, die vor die DSDS-Jury kommen, solle einem repräsentativen Gesamtdurchschnitt aller Bewerber entsprechen: "Dazu zählen die talentierten Sänger ebenso wie die weniger talentierten", so Eickmeyer.

Die RTL-Sprecherin stellt klar: "Ein antizipiertes Bloßstellen gibt es bei DSDS nicht." Der 17-jährige Schüler Raymund R. sei im Vorfeld dadurch aufgefallen, dass er die Sprüche von Dieter Bohlen sehr lustig gefunden und sich besonders auf das Singen vor der Jury gefreut habe. Selbst sein Vater habe keinerlei Hinweise auf eine Labilität seines Sohnes gegeben. "Wenn Eltern zu sehr gegen den Willen der Kandidaten auf eine Teilnahme drängen, werden die Kandidaten nicht in die nächste Runde gelassen", versichert Anke Eickmeyer. Das gleiche gelte, wenn Bewerber beim Vorsingen zu nervös seien oder "erkennbar persönliche Probleme" haben.

"So manchen Freak bewusst weitergeschickt"

Von der vermeintlichen Fürsorge der DSDS-Macher haben andere Kandidaten allerdings nicht viel mitbekommen: "Ich denke, dass die Musikredakteure beim Vor-Casting schon so manchen Freak bewusst weitergeschickt haben. Die sollten dann eine Woche später wiederkommen und mit gleichem Outfit, gleichem Make-up, gleichen Liedern und gleichen Begleitpersonen noch mal vor der echten Jury singen", erinnert sich Eva E. Die 16-jährige Schülerin aus Heiligendamm war eine von rund 300 Kandidaten, die beim offenen Casting in Berlin antrat.

Nur 20 Bewerber kamen weiter, Eva war nicht dabei: "Bei einigen Leuten hat man sich schon verdammt gewundert, warum die in den Recall durften", meint Eva. Manchen Kandidaten, die sich augenscheinlich und hörbar nicht zum Popstar eigneten, habe man in dem Glauben gelassen, sie hätten eine Chance, will sich Eva erinnern. Noch vor Ort seien Kandidaten von der Produktionsfirma darum gebeten worden, für einen kleinen und sympathischen Porträtfilm zur Verfügung zu stehen. Auch der Schüler Raymund ließ sich daraufhin mit seinem Vater am Kölner Rheinufer filmen, nachdem er in die nächste Runde - in der zu dem fatalen Zwischenfall kam - durchgewinkt wurde.

Jugendschützer fordern von RTL mehr Feingefühl bei der Auswahl der Kandidaten, die vor laufender Kamera von Dieter Bohlen niedergemacht werden: "Minderjährige verdienen einen besonderen Schutz, und dieser Schutz ist nicht in erster Linie von den Eltern zu leisten, sondern von RTL", sagt Friedhelm Güthoff, Geschäftsführer des Kinderschutzbundes NRW.

Nach DSDS von der Schule beurlaubt

Bereits bei früheren RTL-Produktionen wie "Super Nanny" habe es Hinweise gegeben, dass die gezeigten Kinder und Jugendlichen nach Ausstrahlung der Sendung "sehr litten" und RTL die Familien nicht umfassend über Gefahren ihrer TV-Präsenz aufgeklärt habe. Auch in Sachen "Deutschland sucht den Superstar" vermisst Güthoff die angemessene Sensibilität: "Woher soll der normale Fernsehzuschauer wissen, wie gefährlich ein Fernsehauftritt werden kann?", sagt Güthoff. Minderjährige seien bei Produktionen wie DSDS nicht ausreichend geschützt.

Dem widerspricht RTL: "Es gibt keinen allgemeinen Bedarf, Kandidaten zu schützen. Inzwischen haben sich über 100.000 Kandidaten bei DSDS beworben", sagt Sprecherin Anke Eickmeyer. "Alle Bewerber kommen freiwillig, mit einer realistischen oder eben unrealistischen Selbsteinschätzung ihres Talents zum Casting. Da sich Kandidaten bewusst und in reiner Absicht berühmt zu werden einem Millionenpublikum stellen, wäre Anonymität sicher nicht der richtige Weg. Die Kandidaten geben RTL schriftlich ihr Einverständnis, dass ihr voller Name und der Wohnort genannt werden dürfen."

Zudem wisse jeder einzelne, dass er sich bei einer TV-Show bewerbe und vor einem Millionenpublikum auftrete. RTL und die Produktionsfirma hätten Raymund R. aufgrund der starken Reaktion der Öffentlichkeit inzwischen psychologische Hilfe angeboten.

Die kam für den Schüler jedoch zu spät - nach mehreren schlaflosen Nächten und Hunderten Telefonanrufen wurde er von der Schule sicherheitshalber beurlaubt.


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